Erfahrungsbericht: Morgenseiten

Die Kreativ-Coachin und Schriftstellerin Julia Cameron empfiehlt den Teilnehmern ihrer Kurse in kreativem Schreiben, zuerst eine Schreibroutine aufzubauen, indem man jeden Morgen drei A4-Seiten vollschreibt. Alle Gedanken sollen spontan niedergeschrieben werden. Am besten von Hand. Dabei spielen Stil und Rechtschreibung keine Rolle. Vielmehr gehe es darum, eine Schreibroutine zu etablieren. Hier mein Erfahrungsbericht: Morgenseiten schreiben.

 

Schreibroutine. Mal überlegen… Da war doch was…

Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich sollte eine etablieren und die Angst vor dem leeren Blatt verlieren.

Bei der Lektüre von Camerons Ratgeber über kreatives Schreiben fragte ich mich, ob das die Lösung für meine fehlende Disziplin sein könnte. Ich habe keine Angst von dem weissen Blatt. Vielmehr mangelt es mir an der Fähigkeit, mich regelmässig hinzusetzen, um zu schreiben.

Vielleicht liegen dieselben Ursachen dem Phänomen zu Grunde und ich leide bloss am anderen Symptom.

Erfahrungsbericht

Ich habe also mein Collageblock genommen und angefangen tägliche Morgenseiten zu schreiben. Und das sind meine Erfahrungen nach einem Quartal Morgenseiten.

Die ersten Wochen

Natürlich habe ich es nicht auf Anhieb geschafft, jeden Tag zu schreiben. Gleich am zweiten Tag habe ich es einfach vergessen. Somit war meine erste zusammenhängende Schreibzeit mit EINS taxiert.

Davon wollte ich mich nicht kleinkriegen lassen. Ich habe die Morgenseiten einfach weitergezogen in der Hoffnung, meinen bisherigen Erfolg zu schlagen. Das gelang mir auch schon nach kürzester Zeit.

Aber bereits nach einer Woche hatte ich weitere Aussetzer. Ja, Aussetzer. Plural. Ich klopfte mir auf die Schulter für die weise Entscheidung, die Morgenseiten in einem unverbindlichen Selbstversuch auszuprobieren, anstatt viel Geld für einen Schreibcoach hinzublättern, der mich wie den letzten Versager ansehen würde. Nicht, dass ich mich weniger schlecht gefühlt hätte. Ich hatte bei einer so simplen Aufgabe versagt, dass ich mich auch ein wenig vor mir selbst schämte. Aber nur ein ganz klein wenig.

Der Damm bricht

Sobald ich es mir zur höchsten Tagespriorität machte, drei Seiten zu schreiben, bevor ich den Tag beende, wurden die drei Seiten schneller voll. Noch immer hatte ich Mühe damit, es wirklich durchzuziehen. Die geistigen Ergüsse glichen jedoch mentalem Dünnpfiff. Aber das ist egal. Es geht nur darum, die drei Seiten vollzukriegen.

Das Wasser wird klarer

Der Ganze Müll war nach ungefähr sechs Wochen niedergeschrieben. Ich fühle mich wie ein Teenager, der all seine Probleme und Gedanken im Tagebuch verewigt. An einem Punkt fragte ich mich sogar, warum ich kein Schloss an meinem Spiralheft habe. Und dann, allmählich, gelangte ich an das Ende des Spiralhefts. Ja, ich hatte es geschafft. Ich hatte ein ganzes Spiralheft vollgeschrieben. Format A4. Kein popliges A5. Das kann schliesslich jeder. Das wäre echt keine Leistung. Ich fühlte mich wie Rocky, der seine Treppe in Philadelphia bezwungen hatte mit dem passenden Soundtrack dazu.

Das frische Quellwasser

Nach ca. neun Wochen muss ich mir noch immer einen bewussten Ruck geben, um anzufangen. Die Texte werden differenzierter. Es fühlt sich nicht mehr so an, als würde ich Tagebuch führen, sondern als ob ich meine Gedanken zu einem Thema verfolgen würde. Damit entstehen zusammenhängende Texte und Argumentationen. Das Schreiben fühlt sich flüssiger und strukturiert an. Dennoch denke ich beim Schreiben nicht nach. Ich schreibe einfach meine Gedanken ungefiltert auf. Einige meiner Gedankengänge gefallen mir nicht. Ich brauche definitiv ein Vorhängeschloss für mein Spiralheft.

Nach drei Monaten

Ich schreibe immer noch fleissig meine drei Seiten jeden Morgen. Aktuell schreibe ich nicht gegen die Angst vor der leeren Seite an, sondern beweise mir, dass ich eine Routine einhalten kann. Dieser tägliche Beweis der eigenen Zuverlässigkeit steigert mein Vertrauen in mich. Ich kann Entscheide umsetzen, wenn ich sie mir vorgenommen habe. Ich kann Selbstverpflichtungen einhalten und mich an meine eigenen Versprechen halten. Dieser tägliche Beweis stärkt das Vertrauen in mein eigenes Selbst.

Positiv:

  • Ich schreibe
  • Etabliere Schreibrutine
  • Verliere Hemmung vor schlechten Texten
  • Ich denke Themen auf Papier durch
  • Vertrauen in mein Selbst wächst

Negativ:

  • Drei Seiten kosten mich ca. 45 – 60 Min. Schreibzeit
  • Zögert die Arbeit an meinem Skript heraus
  • Ich bekomme das Gefühl, täglich genug geschrieben zu haben
  • Braucht viel Papier

Fazit

Die Morgenseiten gestalten sich gerade zu Beginn holprig. Allmählich gewöhnt man sich ans Schreiben und die Gedanken fliessen klarer sowie eloquenter. Die Qualität verbessert sich mit der Routine. Für Menschen, die Angst vor dem leeren Blatt haben, ist es eine gelungene Übung, um mit dem Schreiben zu beginnen. Für geübte Schreiber wird es jedoch schnell zu einem Zeitfresser, dank dem man das eigentliche Projekt verzögern kann.

Leidet man allerdings an Ideenlosigkeit, werden dank dem schriftlichen Denken viele neue Themen und Erinnerungen an die Bewusstseinsoberfläche gespült. Neue Aspekte werden beleuchtet, die Türen zu weiteren Gedanken öffnen.

Ich empfehle es deshalb denen, die gerne eine Geschichte schreiben möchten, aber ihren Fähigkeiten noch zu wenig vertrauen.

 

Bis zum nächsten Mal

Euer Reggy